Warum Mouhanad Khorchides Forderung übersieht, was bereits existiert – und was stattdessen wirklich zählt.
(Eine kritische Antwort auf Khorchides These und ein Plädoyer für Umsetzung statt neuer Forderungen)
Mouhanad Khorchide hat mit seinem Artikel „Wo bleibt das islamische Nostra Aetate?“ eine provokante, aber zentrale Frage in den Raum gestellt. Er spielt damit auf die historische Erklärung der katholischen Kirche von 1965 an, mit der diese ihre Haltung zu anderen Religionen – insbesondere Judentum und Islam – grundlegend neu definierte.
Die Forderung nach einem islamischen Pendant mag auf den ersten Blick berechtigt erscheinen, wenn man die institutionelle Sichtbarkeit betrachtet. Doch sie verkennt eine zentrale Tatsache: Die theologische Grundlage für die Anerkennung existiert im Islam seit Anbeginn.
Der Islam brauchte kein 1965
Die katholische Kirche musste ihre Haltung korrigieren. Der Islam hingegen hat die göttliche Herkunft von Judentum und Christentum nie geleugnet.
- Propheten: Moses (Musa) und Jesus (Isa) gelten als wichtige Gesandte.
- Offenbarung: Ihre Botschaften sind Teil der göttlichen Offenbarung.
- Anerkennung: Die „Leute der Schrift“ (Ahl al-Kitab) sind im Koran fest verankert.
Die Herausforderung im Islam liegt heute nicht in der Abwesenheit einer theologischen Grundlage für den Dialog, sondern darin, die bereits existierenden Initiativen mit Leben zu füllen und sichtbar zu machen.
Die Dokumente des Dialogs: Schon längst existierend
Wer nach einem islamischen Nostra Aetate ruft, ignoriert eine Reihe theologisch fundierter und politisch wichtiger Erklärungen, die in den letzten Jahren entstanden sind. Sie zeigen, dass die muslimische Welt sehr wohl aktiv ist:
| Jahr | Dokument | Inhalt & Bedeutung |
| 2007 | „A Common Word Between Us and You“ | Offener Brief von 138 muslimischen Gelehrten an christliche Kirchenführer, der die Liebe zu Gott und zum Nächsten als gemeinsame Grundlage hervorhebt. |
| 2016 | „Marrakesch-Erklärung“ | Initiative zur Verteidigung der Rechte religiöser Minderheiten in muslimischen Ländern, gestützt auf die Verfassung von Medina. Ein starkes Signal gegen Intoleranz. |
| 2019 | „Dokument über die Brüderlichkeit aller Menschen“ (Abu Dhabi) | Historische Erklärung, unterzeichnet von Papst Franziskus und dem Großimam von al-Azhar, Ahmad al-Tayyeb. Ein Aufruf zu Frieden, Toleranz und gegenseitigem Respekt von höchster Ebene. |
Diese Texte sind keine bloßen Absichtserklärungen. Sie sind substanzielle Beiträge zum interreligiösen Dialog und belegen: Die muslimische Seite liefert.
Was wirklich fehlt: Die Umsetzung auf beiden Seiten
Khorchides Forderung übersieht: Der Islam muss nicht neu anerkennen, was er nie in Abrede gestellt hat. Was stattdessen fehlt, ist die konsequente Umsetzung der bereits formulierten Prinzipien auf breiter Ebene – und das betrifft nicht nur Muslime.
Die theologische Grundlage für gegenseitige Anerkennung ist längst gelegt. Doch es hapert oft an der praktischen Anwendung.
- Kirchliche Gemeinden und Bildungseinrichtungen sind gefragt, die Inhalte von Nostra Aetate nicht nur zu zitieren, sondern aktiv in Bildungsarbeit, interreligiöse Begegnungen und gesellschaftliche Projekte zu überführen.
- Muslimische Institutionen müssen die Prinzipien der oben genannten Erklärungen aktiv in Moscheen und Schulen vermitteln und damit ihre Sichtbarkeit und Verbindlichkeit erhöhen.
Nur so wird aus einer historischen oder theologischen Erklärung ein lebendiger, spürbarer Dialog.
Fazit: Nicht neue Dokumente, sondern neues Engagement
Der Islam braucht kein Pendant zu Nostra Aetate, weil seine theologische Anerkennung von Judentum und Christentum nie ein Mangel war.
Was wir alle heute brauchen, ist die konsequente Umsetzung der bereits formulierten Prinzipien. Nicht neue Dokumente, sondern neues Engagement.
Wer weiterhin reflexartig nach einem islamischen Nostra Aetate ruft, sollte sich die Frage stellen, ob er die bereits existierenden, wegweisenden Initiativen wirklich kennt – und ob er bereit ist, sie aktiv zu unterstützen.

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